2. Föderalismus, Subsidiarität

2.003 Die Gefahr der schleichenden Zentralisierung
Von Dr. Thomas M. Studer (Januar 2024, IWP: Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern)

Welches sind die wesentlichen Vor- und Nachteile des Föderalismus?
Häufig wird bei der Erörterung der Vor- und Nachteile des Föderalismus vergessen, worum es eigentlich geht: um die Teilung von Entscheidungsmacht. So entzieht der Föderalismus einer Zentralregierung die alleinige Macht und teilt diese auf die föderalen Einheiten auf. Das bringt die Regierung näher an die Bürger. So haben wir zugleich die Nachteile schon benannt: Es gibt nicht nur einen politischen Prozess, sondern gleich mehrere, die sich überdies gegensei- tig bedingen, behindern und blockieren können. Entscheidungsprozesse können hierdurch langwierig anmuten, administrative Prozesse vervielfachen sich und nehmen an Komplexität zu. Daher rührt ein häufiges Vorurteil: Der Föderalismus mit seinen vielen Anlaufstellen und seinen langwierigen und komplexen Entscheidungsstrukturen sei unattraktiv und werde daher von Firmen für Direktinvestitionen gemieden.

Genau dieses Vorurteil haben Sie in Ihrem neuen Forschungsbeitrag zusammen mit Lars P. Feld, Leonardo Palhuca und Christoph Schaltegger untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
Richtig, wir haben dieses Vorurteil zu unserer zentralen Forschungshypothese gemacht und es mit einem grossen Datensatz untersucht. Die Daten umfassen grenzüberschreitende Un- ternehmensakquisitionen nahezu aller Staaten der Erde während der letzten 25 Jahre. Wir haben festgestellt, dass der Föderalismus Direktinvestitionen nicht behindert. Vielmehr haben wir herausgefunden, dass die Gewährung von Steuerautonomie auf subnationaler Ebene die Summe von Unternehmensakquisitionen sogar verdoppelt. Es spricht also einiges dafür, dass der Föderalismus Kapitalgeber anzieht, wenn man es wirklich ernst mit ihm meint.

Föderalistische Systeme neigen zu einer schleichenden Zentralisierung. In der Schweiz wird mitunter vom Kartell der Kantone gesprochen. Wie beurteilen Sie diese Gefahr?
Die Gefahr ist durchaus real. Die schleichende Zentralisierung beschreibt einen Prozess, bei dem schrittweise und häufig kaum merklich Zuständigkeiten und Befugnisse von den Kanto- nen oder den Gemeinden auf die Bundesebene übertragen werden. Dies kann in verschiedenen Formen geschehen, wie etwa durch neue Bundesgesetze, die in Bereiche eingreifen, die zuvor von den Kantonen oder Gemeinden geregelt wurden, oder durch die zunehmende Abhängigkeit der Kantone und Gemeinden von den Finanzmitteln des Bundes. Die Gründe für diese schleichende Zentralisierung sind vielfältig. Dazu gehören der Wunsch nach einheitlichen Standards, die Reaktion auf nationale oder globale Herausforderungen sowie der Druck von internationalen Verträgen oder Vereinbarungen. Ein Symptom dieser Entwicklung ist die immer wichtiger werdenden Koordination über kantonale Regierungskonferenzen.
Das Problem der Zentralisierung wird am besten durch eine intensivere Bürger- und Gemeindebeteiligung gelöst. In wissenschaftlichen Untersuchungen wurde herausgefunden, dass durch den Einsatz von Finanzreferenden der Zentralisierungsgrad der Staatstätigkeit signifikant verringert wird. Dieses gilt nicht nur für die öffentlichen Einnahmen, sondern hat darüber hinaus auch einen disziplinieren Effekt auf die Verschuldung. Eine weitere Lösung besteht darin, die unterste Staatsebene zu stärken und den Gemeinden mehr Einfluss zu geben. Viele Städte beklagen ja, dass sie nur noch der Vollzugsdienst des Zentralstaates seien. In der Schweiz erlassen der Bundesrat und das eidgenössische Parlament immer mehr Gesetze, die eine Relevanz für die Gemeinden haben. Die Schweiz hat hier mit dem Gemeindereferendum eine kluge Institution geschaffen, die auch für andere föderale Systeme attraktiv sein kann. Wir sehen es ja in der Schweiz, dass die Gemeindereferenden funktionieren - und Finanzreferenden ohnehin.

Kommen wir noch einmal zu Ihrer Studie zurück. Was halten sie vom Steuerwettbewerb – international und innerhalb eines Staats? Ist die OECD-Mindeststeuer ein sinnvolles Instrument im globalen Steuerwettbewerb?
Steuerwettbewerb innerhalb eines Staates ist die konsequenteste Gewährung von Steuerau- tonomie auf der lokalen Ebene. Wir wissen, dass der Föderalismus genau diese Autonomie benötigt, um seine Bürgernähe voll entfalten zu können. International haben wir hier unter- schiedliche Ansichten. Wir haben in unserer Studie beobachtet, dass die entwickelten OECD- Staaten bei gewährter Steuerautonomie auf lokaler Ebene sogar mehr Direktinvestitionen an- ziehen. Gleichwohl sind wir weit entfernt von einem gefürchteten «Race to the Bottom». Die Hausaufgaben der modernen Demokratie liegen daher wohl eher darin, näher am Menschen Entscheidungen herbeizuführen und dafür Institutionen zu entwickeln. Dazu gehört auch, die Bürger mehr zu beteiligen.



2.002 Wider den Zentralismus: Föderalismus überwindet den Stadt-Land-Konflikt
Lukas Reimann, Nationalrat, Wil SG

Immer häufiger versucht man mit dem heraufbeschworenen Gegensatz «Stadt-Land» Grossregionen zu schaffen. Kantone sollen zusammengelegt werden und wenige Grossstadtregionen werden zu Stadt-Agglomerations-Regionen. Entscheidungsgremien sollen ausgewählte Exekutiv- und Elite-Vertreter sein. Damit werden nicht nur demokratische Abläufe und Strukturen ausgehebelt, auch eine föderalistische und bürgemahe Politik wird verhindert.
Natürlich gibt es in der täglichen Politik Unterschiede von Stadt und Land, die eine volksnahe Politik berücksichtigen muss. Ein Bergdorf steht vor anderen Herausforderungen als die Stadt Zürich. Gerade deshalb ist der Föderalismus so wichtig! Die Vereinheitlichung zu Grossregionen verstärkt die Gegensätze. Zentralismus war und ist nicht geeignet für ein vielfältiges Land wie die Schweiz.
Das bewährte und moderne Konzept heisst in der Schweiz Föderalismus
und Subsidiarität. Die Entscheidungen sollen auf möglichst lokaler Ebene getroffen werden. Nur so können die unterschiedlichen Herausforderungen von Stadt und Land bürgernah wahrgenommen werden. Ein Grossteil der politischen Macht soll von den regionalen Verwaltungseinheiten, also den Gemeinden und den Kantonen, weitgehend autonom ausgeübt werden, während die Zentralregierung nur die Aufgabe hat, den Staat nach aussen zu vertreten und für seine äussere Sicherheit zu sorgen.
Eindrücklich ist, was das frisch gewählte konservativ-liberale Duo Cameron/Clegg in England versucht. Die zentralistischen Einheiten in London werden aufgebrochen und in die Kommunen verlagert. Die Gemeinden sollen wieder vor Ort entscheiden und handeln können. Die strukturelle Revolution will konsequent ' dezentralisieren, weil die zentralen Entscheidungsinstanzen sich in hoffnungslose, hochkomplexe Ineffizienzen manövriert haben. Der Effizienzgewinn und das Sparpotential sind gewaltig. So soll das Budgetdefizit von 11 Prozent des BIP bis im Jahr 2014 auf 2,1 Prozent gesenkt werden. Die Politik ist näher beim Bürger, demokratischer und lokaler. Weg vom Zentralismus! Ein Modell für die Zukunft!
Dieser Wettbewerbsföderalisums hat weitere Vorteile, nicht nur im Vereinigten Königreich. Statt Gleichmacherei und Stillstand bemüht sich jede Gemeinde und jeder Kanton, um auf seine Art möglichst attraktiv und lebenswert zu sein. Schliesslich steht man im Wettbewerb mit den anderen Gemeinden und Kantonen. Das spornt an.
Heute greift Bundesbern immer stärker in die Gemeindeautonomie ein. Alles soll zentralistisch und schweizweit geregelt werden. Dabei bräuchte es in den meisten Bereichen gar keine gesamtschweizerischen Gesetze. Sie können in der Schweiz die so unterschiedlichen Regionen und ihre spezifischen Bedürfnisse und Anliegen gar nicht berücksichtigen. Auch die meisten Dienstleistungstätigkeiten, die heute von der zentralen Regierung geleistet werden, könnten auf regionale und kantonale Behörden verlagert werden und dort besser und auf die Einwohner zugeschnitten angeboten werden.
Ausländische Beobachter begreifen das fast noch besser als inländische. Oft mit Bewunderung! Der Kommentator der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» schrieb vor einem Monat: «Wer in der kleinen Schweiz auf gut einstündiger Fahrt von Zürich nach Chur durch vier Kantone kommt, für den ist Brüssel weit weg. Wer in Volksabstimmungen selbst über Bauplanungen in der Gemeinde und Schulpfleger entscheidet, kann mit den oft undurchsichtigen Entscheidungsprozessen in der Europäischen Union wenig anfangen. Wer auf die Freiheit des Individuums setzt, dem sind die Normierungsbestrebungen in der Europäischen Kommission und der Hang zur Gleichmacherei in manchen EU-Staaten ein Gräuel.»
Wenn wir wieder vermehrt auf Föderalismus statt auf Zentralismus setzen. Wenn wieder vermehrt in den Gemeinden (und Kantonen) entscheiden, vermeiden wir Konflikte. Wenn aber weiterhin immer mehr in Bern vereinheitlicht wird und ein für die Schweiz systemfremder Zentralismus weiter ausgebaut wird, dann werden sich auch die Konflikte verschärfen.


2.001 FOCY: Ein neuer, gebietsunabhängiger Föderalismus
Bruno S. Frey (Eichenberger, Wohlfahrtstätter)
Das Konzept der FOCJ baut auf der Modernen Politischen Ökonomie und verschiedenen Elementen der ökonomischen Föderalismustheorie auf (Eichenberger 1996, 111). In der traditionellen ökonomischen Föderalismustheorie (vgl. Bird 1993, Breton 1996) wird jedoch die Ausdehnung der Gebietskörperschaften als gegeben betrachtet. Sie analysiert, welche Aufgaben welchen Ebenen zugeordnet werden sollten (Weingast 1993, 292). Dabei wird vorausgesetzt, dass ein im vornherein bestimmbarer, optimaler Zentralisierungsgrad existiert. Mit dieser Vorstellung wird im FOCJ-Konzept gebrochen. Die politische Freiheit ist prozessorientiert: FOCJ bilden ein anpassungsfähiges, föderales Netz von Regierungseinheiten, das stets eng an die Bürgerpräferenzen gebunden bleibt und sich der 'Geographie der Probleme' anpasst (Eichenberger 1996, 112).
Die Körperschaften zeichnen sich durch ihre vier grundlegenden Eigenschaften aus, die den Begriff FOCJ kennzeichnen (Eichenberger 1996, 111f.):
(i) FOCJ sind funktional. Ein FOCUS (Einzahl von FOCJ) erfüllt nur eine oder wenige Funktionen. Gebietskörperschaften erbringen ihre Leistungen umso effizienter, je genauer sich Leistungsempfänger und Kostenträger entsprechen (je kleiner die 'spill-overs' sind), je vollständiger sie die 'economies of scale' ausnützen können, und je gezielter sie ihre Leistungen an die Nachfrage der Bürger anzupassen vermögen. Die verschiedenen staatlichen Leistungen weisen aber ganz unterschiedliche Wirkungskreise und unterschiedliche 'economies of scale' auf. Dazu variiert die Nachfrage räumlich beträchtlich, weil sie von verschiedenen Faktoren, die von Ort zu Ort stark unterschiedlich sein können, abhängt. Folglich ist es effizienter, nicht alle Leistungen von der gleichen Gebietskörperschaft zu erbringen, sondern von spezialisierten, auf den betreffenden Wirkungskreis zugeschnittenen funktionalen Jurisdiktionen.
(ii) FOCJ sind überlappend, da die verschiedenen Funktionen ganz unterschiedliche Ausdehnungen der entsprechenden FOCJ erfordern. Bürger gehören folglich nicht nur mehreren Jurisdiktionen an, sondern auch unterschiedlichen 'Bündeln' von Jurisdiktionen. Oft sind sogar überlappende FOCJ von Vorteil, die die gleiche Funktion erfüllen. In der Arbeit werden solche als sich funktional überlappende bezeichnet. FOCJ müssen also nicht zwingendermassen Gebietskörperschaften sein, die in einem zusammenhängenden Territorium ein Leistungsmonopol besitzen. Diese Art der Überlappung erweitert die Wahlmöglichkeiten der Bürger und stärkt den Wettbewerb zwischen den Anbietern staatlicher Leistungen zusätzlich.
(iii) FOCJ sind wettbewerblich. Sie stehen im Wettbewerb um Bürger und Gemeinden. Innerhalb eines FOCUS herrscht demokratischer Wettbewerb. Die Regierungen eines FOCUS werden durch zwei Mechanismen gezwungen, auf die Nachfrage der Mitglieder einzugehen: Die Austrittsmöglichkeiten ('exit') der Bürger und Gemeinden bewirken marktähnlichen Wettbewerb. Ihr Stimm- und Wahlrecht sorgen für politischen Wettbewerb.
Die Austrittsdrohung ist besonders wirksam, da 'exit' in FOCJ nicht auf die geografische Abwanderung beschränkt ist. Einzelne Bürger können aus einem FOCUS aus- und in einen anderen eintreten, ohne den Ort zu wechseln. Diese 'exit'-Möglichkeit besteht auch für Gemeinden und Gemeindeteile. Die genauen Austrittsbedingungen können in einem Vertrag zwischen den Mitgliedern eines FOCUS, einer eigentlichen Verfassung, geregelt werden. Für den Eintritt sollte ein Preis verlangt werden können. Damit werden die Konsumentenrenten von Eintretenden teilweise abgeschöpft und externe Wanderungskosten internalisiert. Dies gibt der Regierung eines FOCUS Anreize, auch für (noch) Nichtmitglieder attraktive Leistungen anzubieten. Für leistungsgerechte Preise sorgt der intensive, marktähnliche Wettbewerb zwischen den verschiedenen Jurisdiktionen.
Solange jedoch die Individuen keine politischen Rechte besitzen, verfügen die Regierungen stets über einen grossen Freiraum und können von den Präferenzen der Bürger abweichen. In FOCJ wird deshalb der politische Wettbewerb durch demokratische Institutionen garantiert. Die Bürger können die FOCJ-Exekutive und -Legislative wählen. Zudem sollten sie über umfassende direkt-demokratische Instrumente, wie dem Initiativ- und Referendumsrecht, zur Kontrolle der Regierung verfügen. Diese Volksrechte bewirken eine vermehrte Beachtung der Präferenzen der Bürger im politischen Prozess. Solange die Bürger das Initiativrecht besitzen, muss nicht auf höherer Ebene vorgeschrieben werden, wie die demokratischen Institutionen eines FOCUS im Detail auszugestalten sind. Sie können von den FOCJ-Bürgern selbst gewählt und entwickelt werden.
(iv) FOCJ sind Jurisdiktionen, die sich durch eine gewisse Steuerhoheit und eine Zwangsgewalt kennzeichnen. Die FOCUS-Mitgliedschaft kann auf zwei unterschiedliche Weisen definiert sein: Mitglieder können die kleinsten politischen Einheiten, in Normalfall die Gemeinden, sein. Ein Gemeindeeinwohner wird dann automatisch Bürger derjenigen FOCJ, in denen seine Gemeinde Mitglied ist. Er hat dann nur durch Umzug die Möglichkeit, aus einem FOCUS auszutreten. Im zweiten Fall kann ein einzelner Bürger frei entscheiden, ob er in einem bestimmten FOCUS Mitglied sein will. Diese starke Form der individuellen Wahlmöglichkeiten kann staatliche Umverteilungsmassnahmen unterhöhlen. Um dies zu vermeiden und auch um eine gewisse Mindestversorgung mit öffentlichen Leistungen zu garantieren, können auf einer höheren politischen Ebene die Mitgliedschaft in einem entsprechenden FOCUS obligatorisch erklärt und Leistungsstandards vorgeschrieben oder entsprechende Anreize gegeben werden.
Der politische Wettbewerb wird als politische Freiheit verankert: Bürger und Gemeinden sind frei, FOCJ zu gründen. Voraussetzung ist eine vertragliche Grundlage. Den untersten politischen Einheiten, den Gemeinden und wenn möglich sogar den einzelnen Bürgern, muss die Freiheit garantiert werden, sich an FOCJ zu beteiligen (Eichenberger 1996, 112). Dazu erhalten die Bürger das Recht, selbst über den Beitritt ihrer Gemeinde zu FOCJ und deren Verfassungen zu entscheiden. Zugleich müssen sie aus den bisherigen Gebietskörperschaften ganz oder nur bezüglich einzelner Funktionen austreten können und eine entsprechende Steuervergütung erhalten. Der Entstehungsprozess darf von existierenden politischen Institutionen nicht blockiert werden. Deshalb müssen alle Bürger und Gemeinden beim entsprechenden Gerichtshof klagen können, falls sie den Entstehungsprozess eines FOCUS behindert sehen (Eichenberger 1996, 112).